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Über die gestaltende Kraft des Menschen

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Betrachtungen zur Metamorphose des Geistes, frei nach Rick Rubin „The Creative Act-A Way of Being“.

I. Von der Uranlage des Gestaltens

Wie der Samen im dunklen Erdreich bereits den ganzen Baum in sich trägt, so ruht in jedem Menschen die gestaltende Kraft als Urphänomen seines Wesens. Es ist nicht eine seltene Gabe, die nur wenigen Auserwählten zuteil wird, sondern vielmehr das Grundgesetz unserer Natur – so gewiss wie das Licht sich im Prisma bricht und die Farben gebiert.

II. Vom Wesen der Bildungskraft

Die Bildungskraft ist dem Menschen so eigen wie dem Baum das Wachsen, der Blüte das Sich-Entfalten zur Frucht. Sie erschöpft sich nicht in dem, was man gemeinhin Kunst nennt – jener besonderen Tätigkeit des Malens, Dichtens oder Musizierens – sondern durchdringt das ganze Dasein wie das Licht die Atmosphäre. Gestalten heißt: etwas ins Sein rufen, was zuvor nicht war, dem Nichts eine Form abringen, wie der Gärtner der wilden Natur den geordneten Garten.

III. Vom Künstlertum des alltäglichen Lebens

So sind wir alle, ohne es zu bemerken, Künstler unseres eigenen Lebens. Gleich jenen feinen Instrumenten, die der Naturforscher verwendet, um die verborgenen Kräfte zu messen, sammeln wir beständig die Eindrücke der Welt. Wir sind Sammler und Ordner zugleich: Was das Auge erschaut, das Ohr vernimmt, was Herz und Verstand durchdringt – all dies wird gesichtet, gefiltert und zu einem einzigen, großen Gemälde unseres Daseins zusammengefügt.

IV. Von der Metamorphose des Erfahrenen

Wie die Pflanze ihre Blätter nach dem Lichte wendet, so richten wir unsere Sinne auf die Welt, um aus dem unendlichen Strom der Erscheinungen jene Tropfen zu gewinnen, die unser eigenes Wesen nähren. Und was wir so gesammelt, das geben wir wieder zurück an die Welt – nicht unverändert, sondern verwandelt durch das Prisma unserer Seele, gefärbt von unserem besonderen Licht.

V. Von den großen Bewegungen des Zeitgeistes

Oft zeigt sich das Gestalten in großen Bewegungen, wie die Zugvögel, die zur rechten Zeit gemeinsam aufbrechen, ohne sich verabredet zu haben. Es ist, als ob ein unsichtbarer Wind durch die Geister weht und sie alle zugleich in dieselbe Richtung trägt. Was wir Zeitgeist nennen, ist nichts anderes als dieses gemeinsame Empfangen und Aussenden bildender Kräfte.

VI. Von der Antenne des empfänglichen Geistes

Wir alle sind Antennen für den großen Gedankenstrom, der die Welt durchfließt – zarter und feiner gestimmt als jedes Instrument, das Menschenhand je schuf. Doch wehe dem, dessen Empfindungsorgan stumpf geworden ist! Wie die Blume, die sich bei trübem Himmel schließt, verliert er die zarteren Schwingungen im Lärm des Alltags. Denn die Signale des Gestaltenden sind oft leiser als das Rauschen der Welt, subtiler als das, was unsere groben Sinne täglich aufnehmen.

VII. Von der Kunst des feinen Vernehmens

So wie das Auge sich erst an die Dämmerung gewöhnen muss, um auch bei schwachem Licht zu sehen, so bedarf es der Übung und der Stille, um jene feinen Regungen zu vernehmen, aus denen das Neue entspringt. Der wahrhaft gestaltende Mensch ist wie der erfahrene Gärtner, der an der Luft schon spürt, welches Wetter kommen wird – er vernimmt im Schweigen das Werden.

VIII. Von der ewigen Wandlung der Formen

Betrachte die Wolke am Himmelszelt: Niemals verschwindet sie wahrhaft, sondern wandelt nur ihre Gestalt. Was heute als weißes Gebilde am blauen Firmament schwebt, wird morgen als Regen zur Erde fallen, sich mit dem Meer vereinen und als Dunst wieder aufsteigen. So ist es mit allen Ideen, die durch den Menschen fließen – sie kehren wieder, doch niemals in derselben Form. Wie keine Schneeflocke der anderen gleicht, so verbinden sich die ewigen Gedanken immer neu, erscheinen in frischem Gewand.

IX. Von der besonderen Beschaffenheit des Künstlergeistes

Die Weltenergie pulsiert durch alle Dinge, wie der Saft durch die Äste des Baumes. Und wie der Baum Blüten und Früchte hervorbringt, so gebiert die Menschheit ihre Kunstwerke. Doch jene, die sich diesem Schaffen hingeben, tragen oft eine besondere Empfindsamkeit in sich – gleich den Mimosen, die bei der leisesten Berührung ihre Blätter schließen. Diese Zartheit, die sie befähigt, das Verborgene zu erschauen, macht sie zugleich verletzlich für die harten Winde der Welt.

X. Von der Filterung des Unendlichen

Das Wasser füllt nicht ungemindert das Gefäß, wie man meinen möchte, sondern wird durch tausend unsichtbare Siebe geleitet. So gelangt auch die Erkenntnis nicht ungefiltert in unser Bewusstsein. Jeder von uns besitzt sein eigenes System der Verengung und Weitung, der Auswahl und Verwerfung. Unser Gedächtnis ist begrenzt wie ein Speicher, unsere Sinne oft trügerisch wie Spiegel im Nebel, unser Verstand zu schwach, um die Fülle der uns umgebenden Botschaften zu fassen.

XI. Von der Rückkehr zur Quelle

Je mehr wir von den rohen, unvermittelten Eindrücken aufnehmen können, je weniger wir sie durch unsere Vorurteile formen, desto näher kommen wir der großen Natur. Das Kind, in seiner unschuldigen Offenheit, nimmt neue Erkenntnisse noch mit Entzücken auf, ohne sie sogleich mit dem zu vergleichen, was es bereits zu wissen glaubt. Wir Erwachsenen hingegen haben unsere Antennen oft verstimmt durch allzu viel Wissen und allzu wenig Staunen.

XII. Von der Bewusstheit als beweglichem Element

In den meisten unserer täglichen Verrichtungen wählen wir selbst die Bahn und entwickeln die Mittel zum Ziel. Wir sind die Herren des Programms. Die Bewusstheit aber bewegt sich anders: Hier geschieht das Programm um uns her. Die Welt ist die Handelnde, und wir sind die Zeugen. Wir haben wenig oder gar keine Macht über den Inhalt, können aber unsere Aufmerksamkeit weiten und verengen, sie mit offenen oder geschlossenen Augen erleben.

XIII. Von den Geheimnissen der Stille und des Lärms

Wunderlich ist es zu beobachten, wie verschiedenartig die Geister ihre Umgebung gestalten müssen, um zu ihrer höchsten Wirksamkeit zu gelangen. Dem einen dient das Schweigen der Klosterzelle, dem anderen der Tumult des Marktplatzes. Wie der eine Gärtner seine Rosen im Schatten zieht, der andere sie der prallen Sonne aussetzt, so bedarf jeder Geist seiner besonderen Atmosphäre. Es gibt keinen falschen Weg – nur deinen Weg.

XIV. Von der Empfindsamkeit als Gabe und Last

Große Schönheit zu sehen, wo andere wenig oder nichts erblicken, große Pein zu empfinden, wo andere gleichgültig vorübergehen – das ist das Los jener, die mit feineren Saiten bespannt sind. Diese Empfindungen können verwirrend und überwältigend sein, wie ein zu helles Licht für das an Dämmerung gewöhnte Auge. Doch ist es gerade diese Zartheit der Organisation, die sie befähigt, jene subtilen Schwingungen zu vernehmen, aus denen die Kunst entspringt.

XV. Von der Überwindung der Furcht

Wie der Wanderer, der vor einer Bergschlucht steht und zögert, den Sprung zu wagen, so steht der Geist oft vor dem Abgrund des Unbekannten. Das Verlangen zu gestalten muss größer sein als die Furcht davor – selbst bei den größten Meistern weicht diese Furcht niemals ganz. Doch wer sich nicht vom Zweifel lähmen lässt, wer seine Zweifel als alte Bekannte begrüßt und ihnen nicht mehr Ernst zumisst, als sie verdienen, der findet den Mut zum ersten Schritt.

XVI. Von der goldenen Naht des Gebrochenen

Wenn ein kostbares Gefäß zerbricht, so versucht der wahre Künstler nicht, es in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Vielmehr betont er den Bruch, indem er ihn mit Gold ausfüllt. So wird aus der Schwäche eine Stärke, aus der Narbe ein Schmuck. Die goldene Ader erzählt die Geschichte des Gefäßes und macht es einzigartig. So soll auch der Mensch mit seinen Brüchen verfahren – sie nicht verbergen, sondern sie als Teil seiner besonderen Schönheit verstehen.

XVII. Von der Befreiung aus den unsichtbaren Fesseln

Die trügerischsten Regeln sind nicht die, welche wir sehen können, sondern jene, die uns unsichtbar binden. Jede Generation wird von Künstlern geprägt, die außerhalb der gewohnten Grenzen leben – nicht von jenen, die die Überzeugungen ihrer Zeit verkörpern, sondern von denen, die sie überwinden. Die Kunst ist Widerspruch, ist Überschreitung. Alle Regeln als brechbar zu betrachten ist eine gesunde Art, als gestaltender Mensch zu leben.

XVIII. Von der Kunst des wahren Lauschens

Oft versperren wir den Strom der uns dargebotenen Erkenntnisse und beeinträchtigen das wahre Lauschen. Unser prüfender Verstand mag sich einmischen, mag notieren, womit wir übereinstimmen und womit nicht. Wir suchen Gründe, dem Sprechenden zu misstrauen oder ihn zu widerlegen. Doch eine Meinung zu bilden ist nicht Lauschen. Ebensowenig das Vorbereiten einer Antwort oder das Verteidigen unseres Standpunktes. Ungeduldig zu lauschen heißt, gar nichts zu hören.

XIX. Schlussbetrachtung – Vom ewigen Bilden

Die Welt wandelt sich ohne Unterlass. Du kannst dieselbe Bewusstseinsübung fünf Tage hintereinander am selben Ort ausführen und wirst jedes Mal eine einzigartige Erfahrung machen. Wie der Fluss niemals derselbe ist, obgleich er denselben Namen trägt, so ist auch die gestaltende Kraft in stetem Fluss begriffen.

Mögen wir alle lernen, unsere Antennen zu schärfen und unser inneres Ohr zu verfeinern, damit wir nicht nur Empfänger, sondern auch Sender jener geheimnisvollen Kraft bleiben, die das Leben immer neu hervorbringt – heute wie zu allen Zeiten, in jedem Augenblick, da ein Mensch den Mut fasst, etwas ins Dasein zu rufen, was vorher nicht war.

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ – und so ist auch unser Gestalten nur ein Gleichnis für die ewige bildende Kraft, die das Universum durchwaltet.

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